Montag, 24. November 2008

Die Geheimnisse der Taiga

Die heiligen Orte, die Götter, die Möglichkeiten mit den Wechselfällen des Lebens, Geburt, Krankheit und Tod, Glück und Unglück umzugehen, haben die die Bewohner der Taiga, die Chanten und Nenzen, von ihren Vorfahren geerbt. Die fremden Stadtbewohner machen sich über solcherlei Aberglauben lustig. Sie verletzen die Taburegeln. Also werden die heiligen Dinge versteckt, vor dem neugierigen Zugriff der Städter, aber auch vor Journalisten und Wissenschaftlern verborgen. Sie sollen nicht ihre Wirksamkeit dadurch einbüßen, dass Unwissende sie zur Befriedigung der Suche nach Exotik missbrauchen. Solche Dinge werden nicht erklärt, die Chanten sagen: „Du hast Augen – sieh, du hast Ohren - höre, du hast Hände – tu, du hast Beine – geh!“
Nach und nach werden mir auch solche „sensiblen“ Informationen anvertraut, aber nur in dem Maße, wie sie für mein „Überleben“ in der Taiga notwendig sind. Wie ich mit diesen Informationen umgehe, weiß ich noch nicht genau, aber immerhin kann ich das besser einschätzen, was Forscher vor mir darüber an Sinnvollem und weniger Sinnvollem geschrieben haben.

Die Heiligtümer sind von den Flussufern in die Sümpfe gewandert, die Erdölarbeiter ahnen nicht einmal, wo sie sind. Eine Gefahr droht ihnen aber von anderer Seite: Missionare evangelikaler Kirchen schaffen, was die russisch orthodoxe Kirche seit dreihundert Jahren nicht erreicht hat. Die Chanten verbrennen ihre heiligen Schlitten, betreten die verbotenen Haine, verbannen die Bärenköpfe aus ihren Hütten und erklären die Opfer an die Götter zu Götzendienst. Ich habe bisher nur Chanten getroffen, die nicht zu den Pfingstlern oder Baptisten übergetreten sind. Sie sind zornig auf die Neugetauften und erwarten die baldige Rache der Götter für die Frevler. Auch Staat und Geheimdienst interessieren sich schon für die sogenannten Sektanten. Man vermutet dahinter eine Verschwörung des amerikanischen Kapitals, das über die Chanten an die russischen Erdölquellen gelangen will.

Mittwoch, 19. November 2008

Auf dem Wohnplatz der Familie Kechimov












Mein Gastgeber hier in Kogalym hat mich auf seinen Wohnplatz am Fluss Voloktejaun mitgenommen. Wir haben uns dort nur ein paar Tage aufgehalten. Jetzt ist er wieder in Kogalym, um seinen Kleinbus zu reparieren. Seine Frau ist dort geblieben. Sie kümmert sich um Hunde und Rentiere. Die Straßen und Elektroleitungen des Ravenskoe Erdölfeldes reichen bis zum Wohnplatz von Vasilij Kechimov. Dass er mit dem Auto innerhalb kurzer Zeit zwischen dem Wohnplatz und der Stadt pendeln kann, und dass die Erdölfirma ihm elektrischen Strom zur Verfügung stellt, verändert den Alltag im Wald einschneidend. Abends erstrahlt der Wohnplatz im Licht elektrischer Glühbirnen. Oben am Wohnhaus hängt ein großer Scheinwerfer, auch Garage für die Motorschlitten und die Sauna sind elektrisch beleuchtet.



Die Hütte wird mit elektrischen Heizröhren beheizt, Valja Kechimova kocht mit einem Elektroherd und bereitet das Wasser für den Tee im elektrischen Wasserkocher. Der einzige Raum des Hauses ist über 60 m² groß. An der Rückwand schläft man unter dem Regal mit den ausgestopften Köpfen der erlegten Bären. Die Knochen des Herrn des Waldes werden in einem kleinen Speicher auf zwei Beinen im Wald beigesetzt, damit Hunde und wilde Tiere sie nicht verschleppen. Die Bären werden zu Beschützern der Familie. Mit einem rosa Vorhang sind sie vor den neugierigen Blicken von fremden Besuchern verborgen, die ja doch nicht verstehen würden, wozu die Chanten an so alten Bräuchen festhalten. Im Zentrum der Hütte steht ein kleiner Fernseher, der den ganzen Tag läuft. Der Inhalt des Fernsehprogramms spielt kaum eine Rolle, Hauptsache der Raum ist mit Geräusch und Flimmern erfüllt. Zu mehr taugt das Programm auch nicht, habe ich den Eindruck.





Ich genieße frischen Fisch und Rentierfleisch und -blut (auch wenn ich mir an einem Knochensplitter schon einen halben Zahn abgebrochen habe). Am Wochenende backt die Hausfrau für ihren fünfzehnjährigen Sohn Kolja mit Hilfe eines elektrischen Handmixers eine Torte aus einem Biskuitboden und selbst bereiteter Buttercreme. Am Sonntagabend wird er wieder ins Dorf Jubilejnoe gebracht, zwei Stunden Fahrt mit dem Motorschlitten. Am Montag fährt er mit dem Bus ins Internat nach Ult-Jagun, wo er bis Freitag wohnt.



Vasilij fährt mit mir zum Wohnplatz der Nachbarn, wo er einen Motorschlitten für seinen Sohn kaufen will. Dieser soll dann am Wochenende mit dem Motorschlitten selbstständig nach Hause fahren. Wenn ich mir ansehe, wie oft die chantischen Männer an ihren Motorschlitten basteln und reparieren, gewinne ich den Eindruck, dass sie eigentlich ständig kaputt sind. Der Motorschlitten ist einfach das wichtigste Verkehrsmittel in der Taiga geworden. Irgendwas ist immer zu richten und in der Garage sind die Männer in ihrem eigenen Reich.



Garage und Sauna sind bei Vasilij Kechimov größer, als früher die Häuser der Chanten waren. Ich helfe ihm dabei aus Brettern einen Fußboden in der Garage zu verlegen. Die Erdölfirma versorgt als Entschädigung die Waldbewohner mit Brettern, liefert ihnen aber nur die niedrigste Qualität, wovon ich mich selbst überzeugen kann.

Dienstag, 18. November 2008

Rentieropfer





Vor mehr als zehn Jahren haben ein paar Freunde und ich ein Rentier für Juri Vella gekauft. Wir sind damals rund dreißig Kilometer zu Fuß über die Sümpfe zu den Nachbarn von Juri gelaufen, um mit ihnen über den Kauf zu verhandeln. Das Geld haben wir gleich da gelassen und Juri hat das Rentier im Winter abgeholt. Inzwischen hat sich das Tier mehrfach verjüngt. Die wie vielte Generation von Rentier jetzt in der Herde von Juri lebt, weiß ich nicht. Schon vor meiner Abreise hierher meinte Juri am Telefon, dass es Zeit wäre, ein Opfer zu bringen. Ich kaufte in der Stadt Stoff und Alkohol. Der Stoff wurde zusammen mit den Rentierschädeln an einem Baum hinter dem Haus aufgehängt. Fell und Fleisch, sowie der Vodka wird von den Menschen konsumiert. Eigentlich werden die Opfer direkt hinter der Rückwand des Hauses gebracht, dass ist die heiligste Stelle auf dem Wohnplatz. Dieses Mal wurde aber noch ein drittes Rentier geschlachtet, das für einen befreundeten Erdölarbeiter bestimmt war, der Juri manchmal Benzin oder Diesel besorgt. So waren zwei Erdölarbeiter anwesend, die keine Ahnung von den Sitten der Ureinwohner haben. Das Opfer fand deshalb etwas weiter entfernt seitlich neben der Hütte statt. Juri bestimmte ein Rentier für die Göttin der Anwohner des Flusses Tjujtjacha, der in der Nähe vorbeifließt, eines für die Göttin des Agan, in den der Tjujtjacha mündet, und den großen alten Rentierbullen des Erdölarbeiters für den Gott der Krankheiten.






Rentiere





Jeden Tag ist Juri unterwegs, um die Herde zum Haus in den großen Zaun zu treiben, der den Wohnplatz umgibt. Sie sollen daran gewöhnt werden, dass man sie hier füttert und Salz lecken können. Rund 15 Tiere sind auf der anderen Seite des Flüsschens und haben sich der Herde des Nachbarn angeschlossen. Der hat sie anhand der Markierungen an den Ohren aussortiert und von seiner Herde weggetrieben. Jetzt fährt Juri fast jeden Tag dorthin und sucht sie. Bevor der Fluss nicht gefroren ist, werden sie nicht auf unsere Seite kommen. Wir bauen eine provisorische Brücke, damit man wenigstens mit dem Motorschlitten den Fluss überqueren kann. Bis jetzt musste Juri mit dem Kleinbus einen riesigen Umweg über das Erdölfeld machen und die dortige Brücke nutzen. Die Rentiere sind nur halb domestiziert. Früher ließ man sie frei weiden und lockte sie nur im Sommer mit Rauchfeuern gegen die Mücken und im Winter mit Zufütterung. Heute verhindern kilometerlange Zäune, dass die Rentiere auf die Erdölfelder laufen. Auch Juri baut ständig neue Zäune. Wir helfen ihm, einen morsch gewordenen Zaun einzureißen und die Nägel zu recyceln, damit sich die Rentiere nicht die Hufe verletzen. Seit dem Sommer wohnt ein junger Chante, Fedja, auf dem Wohnplatz, der gegen ein wenig Geld bei den Bauarbeiten half. Jetzt trainiert er einige Rentiere für ein Schlittengespann. Die halbwilden Tiere müssen mühselig an das Geschirr und die Unterordnung unter den Willen des Menschen gewöhnt werden.





Sicherheitsdienst

Als Juris Schwiegersohn eines Tages unterwegs zum Wohnplatz war, hielt ihn der Sicherheitsdienst der Erdölfirma an. Man wollte ihn nicht über das Erdölfeld lassen. Er hatte keine Papiere, mit denen er beweisen konnte, dass er wirklich dort im Wald wohnt. Man solle ihn lieber durchlassen, drohte er ihnen. Sein Schwiegervater sei ein großer Schamane, und wenn sie ihn hier länger aufhielten, dann würden er ihnen Ärger bereiten. Sie würden das abends im Bett mit ihren Frauen schon merken. Die Sicherheitsleute erschraken sich so, dass sie ihn sofort fahren ließen.



Landrechte und das Erdölfeld





Als Juri sich vor 16 Jahren die ersten Rentiere kaufte und aus dem Dorf auf das Land seiner Vorfahren zog wusste er, dass sich die Erdölfelder auch dorthin ausbreiten würden. Er erzählt uns, welche Wohnplätze und Grabstätten seiner Verwandten dort lagen, wo sich heute riesige Sandflächen auf dem Erdölfeld Povch ausbreiten, nachdem man Wald und Rentierflechten beseitigt hat. Die Regionalregierung rühmt sich offiziell, dass sie den Ureinwohnern Landrechte auf den Territorien der traditionellen Naturnutzung eingeräumt hat. Gleichzeitig geben die staatlichen Stellen Jagdlizenzen an die Stadtbewohner aus, die auf den Rentierweiden jagen gehen und auch mal aus Versehen das eine oder andere Rentier erlegen. Während seine Nachbarn Entschädigungen für die Zerstörung der Rentierweiden bekommen, hat sich Juri mit der Erdölfirma Lukoil überworfen. Er weigerte sich, seine Zustimmung für die Erschließung eines neuen Erdölfeldes zu geben. Die Lokalregierung verweigerte daraufhin die Bestätigung, dass Juri auf einem Territorium der traditionellen Naturnutzung wohnt. Juri besitzt wie die meisten der Rentierzüchter nur unbeglaubigte Kopien von Dokumenten, die ihn als Bewohner seines Landes ausweisen. Auf diese Weise halten sich die staatlichen Stellen die Möglichkeit offen, jederzeit Ureinwohnern die Nutzungsrechte für Land wieder zu entziehen, wenn es zu offenen Konflikten mit der Erdölindustrie kommt.

Samstag, 15. November 2008

Der frühe Winter





Zu Beginn meines Aufenthalts im Wald war Tauwetter. Der Schnee verschwand fast ganz im Wald. Wir verschieben das Schlachten der Rentiere von Tag zu Tag. Besser ist es auf sauberem Schnee und bei Frost zu schlachten, weil das Fleisch sofort gefriert. Juri entscheidet sich dann, unsere Rentierkuh am Leben zu lassen und ein anderes Tier zu schlachten, weil der Himmelsgott kein geeignetes Wetter schickt. In den Tagen danach wird es auch wirklich kälter. Es fällt Schnee und die Temperaturen sinken unter 20 Grad minus.







Die weglose Zeit ist jedoch noch nicht vorbei. Unter der Schneedecke frieren die Flüsse und die Sümpfe nicht so schnell zu. Ich bin überrascht zu hören, dass zuerst die breiten, dann die schmaleren Flüsschen gefrieren. Das hängt mit der Fließgeschwindigkeit zusammen. Langsam fließende Gewässer frieren langsamer zu. Stellen mit starker Strömung bleiben besonders lange offen und am Ufer, wo Schnee angeweht wird, können sich unter der Schneedecke offene Stellen verbergen.







Vom Fleisch der Rentiere kann Juris Familie nicht überleben. Dafür ist die Herde zu klein. Fisch wird an einem kleinen Taigaflüsschen gefangen, das aus einem großen See entspringt. Dort steht ein Wehr aus Holzstäben mit zwei Reusen die alle paar Tage geleert werden. Frische Hechte, Alande und Barsche. Sogar den Rentieren wird eine salzige Brühe aus Aland gekocht. Auf Stöckchen gespießt und neben dem eisernen Ofen getrocknet schmeckt der Aland besonders lecker, er wird dann knusprig wie Knäckebrot. Der Hecht schmeckt mir am besten gefroren und roh. Mit ein wenig Salz ersetzt er jedes Eis.

Freitag, 14. November 2008

Nomadenschule

Den Sommer über haben die fast erwachsenen Enkel Jurijs, Koltschu und Anton, mit ihrem Stiefvater Petja das Schulgebäude vom alten zum neuen Wohnplatz transportiert und dort wieder errichtet. Die lokale Schulbehörde möchte die Schule am liebsten schließen, weil sie sie für Geldverschwendung hält. Sie finanzieren nur die Gehälter der Lehrer und einige Lehrmittel. Die Kinder der Rentierzüchter werden normalerweise in Internaten unterrichtet und für die meiste Zeit des Jahres von ihren Eltern den Rentieren und der gewohnten Umgebung getrennt. In der Republik Jakutien, die weiter östlich in Sibirien liegt, ist gerade ein Gesetz erlassen worden, dass den Kindern der Rentierzüchter das Recht garantiert, in verschiedenen Formen von Nomadenschulen unterrichtet zu werden. Juri hofft sehr, dass ein solches Gesetz auch hier erlassen wird. Die drei Kinder werden von einem baschkirischen Lehrerehepaar unterrichtet. Die Republik Baschkirien liegt im südlichen Uralgebiet mit der Hauptstadt Ufa. Da früher dort auch Öl gefördert wurde, kommen viele der Erdölarbeiter hier aus dieser Region. In fast allen Städten hier gibt es eine große baschkirische Gemeinde.















Ravel Hasanov, der Lehrer, ist auch Musiker und versucht mir das Spiel auf der Hirtenflöte beizubringen. Er ist damit erfolgreicher als den Rentierzüchtern die Bedeutung Darwins für die Wissenschaft nahezubringen.

Dienstag, 11. November 2008

Das neue Stoibische

Der Winterwohnplatz von Familie Vella wurde nach über 15 Jahren in diesem Sommer verlegt. Das war nötig geworden, nachdem die Rentierflechte am bisherigen Winterwohnplatz von den Hufen der Tiere so beeinträchtigt war, dass die Weiden dringend Erholung brauchten. Ich kann mich noch erinnern zusammen mit Carolin Grosse Anfang der 90er Jahre zusammen mit Jurij Vella einige Balken der ersten Blockhütte auf dem alten Winterwohnplatz an ihren Platz gelegt zu haben. Nun ist dieser Wohnplatz, an dem im Laufe der Jahre sechs Gebäude errichtet wurden, verweist. Die Familie wird dorthin nur für kurze Zeit im Frühjahr zurückkehren, wenn die Rentiere auf den Sümpfen in der Nähe die Kälber zur Welt bringen.
Am neuen Wohnplatz steht die Hütte von Jurijs Tochter Lada, ihrem Ehemann Petja ihren fast erwachsenen Söhnen Koltschu und Anton, Koljana, der in die erste Klasse geht und der kleinen Alexandra, die Sascha genannt wird.









Daneben steht das Gebäude der ersten Nomadenschule der Region, in der Koltschu und Anton auf ihren Schulabschluss vorbereitet werden. Der kleine Koljana ist erst dabei sich daran zu gewöhnen längere Zeit an einem Platz stillzusitzen und mit Papier und Bleistift Aufgaben zu lösen. Ein paar Meter weiter steht die Blockhütte für das Lehrerehepaar Hasanov, die mit Beginn des Schuljahres in die Taiga gekommen sind. (Über die Schule werde ich in den nächsten Tagen noch genaueres berichten).



Direkt daran schließt sich eine kleine Hütte für Gäste an und der ganze Wohnplatz ist mit einem Zaun umgeben, in den die Rentierherde regelmäßig hineingetrieben wird. In den letzten zwei Wochen wurde auch die Sauna fertig gestellt. Ein Plumpsklo und eine Hundehütte vervollständigen das Ensemble. Die Hütten und die Sauna werden mit eisernen Öfen geheizt, für die das Holz aus dem Wald geholt wird.





Abends erstrahlt der Wohnplatz in elektrischem Licht, wenn der Generator nicht gerade kaputt oder der Diesel ausgegangen ist.



Im Augenblick wohnt Jurij entweder in der Gästehütte oder bei seiner Tochter Lada. Jurijs Frau Lena ist gerade im Krankenhaus, er plant aber noch eine Hütte für sich selbst zu errichten. Eine Satellitenschüssel wartet noch auf Installation, um den Wohnplatz an Internet und unzählige Fernsehkanäle anzuschließen und Jurijs kühner Traum ist alle Hütten mit einer einzigen Heizung zu heizen, deren Heizkörper mit einer Flüssigkeit gefüllt werden, die auch bei 60 Grad minus nicht gefriert.